Stationen des jüdischen Lebens

Die Geburt eines Kindes bedeutet Freude, aber auch erzieherische Pflicht für die Eltern des Neugeborenen. Ein neugeborener Junge unterzieht sich am 8. Tage nach seiner Geburt einer rituellen Beschneidung. Durch sie wird das Kind in das Bündnis mit Gott aufgenommen. Eine rituelle Beschneidung ist die Entfernung der Vorhaut. In ihrer Bedeutung für das jüdische Selbstverständnis eines Juden ist diese Vorschrift nicht zu unterschätzen. Das Gebot der Beschneidung ist eine der ältesten biblischen Vorschriften. Schon Abraham unterzog sich der Beschneidung weit vor der Zeit eines realexistierenden Judentums mit Tora und Gesetzen. Die Beschneidung steht für die Vollständigkeit, für die gänzliche Aufnahme eines jüdischen Mannes in die Religionsgemeinschaft Israels. Sie ist ein Fundament des jüdischen Glaubens und wird in allen Strömungen des Judentums praktiziert. Es ist die Pflicht des Vaters, dafür zu sorgen, dass sein Sohn am 8. Tage nach der Geburt beschnitten wird. Dafür beauftragt er einen geschulten „Mohel“, der die rituelle Beschneidung nach den Regeln und Riten des Judentums professionell und medizinisch einwandfrei am Kind vollzieht.

Da Mädchen im Judentum selbstverständlich nicht beschnitten werden dürfen, besteht ihre erste und wichtige Station im Leben darin, dass ihr Name im Kreise einer Betergemeinschaft ausgerufen wird. Diese traditionelle Namensgebung erfolgt in der Regel im Morgengebet des Schabbats (Samstag) nach der Geburt der Tochter. Der Vater der Tochter wird zur Toralesung aufgerufen und nennt der Gemeinde den Namen seiner neugeborenen Tochter.

Mit 12 Jahren ist dann ein jüdisches Mädchen religiös mündig. Ein solches Mädchen nennt man die Bat Mizva. Ein jüdischer Junge erhält seine religiöse Mündigkeit mit 13 Jahren. Die Zeremonie einer Bar Mizva läuft in der Regel folgendermaßen ab: Jeden Schabbat findet in der Synagoge die Lesung eines Tora-Wochenabschnittes statt. Danach folgt eine zusätzliche Lesung, die man die Haftara nennt. Die Haftara besteht dann aus der Lesung eines zum Wochenabschnitt inhaltlich dazugehörigen Abschnittes aus den Büchern der Propheten. Der Bar Mizva Junge übernimmt diese Haftara-Lesung. Dafür muss er sie davor liturgisch gut vorbereitet haben. Ebenso hält der Bar Mizva Junge eine Rede zur Feier des Tages: Er spricht über die Bedeutung dieses Tages, er spricht über die Aufgaben und Pflichten eines jüdisch mündigen „Erwachsenen“, die ab jetzt auf ihn zukommen. In der Synagoge werden Bonbons und Süßigkeiten geworfen und verteilt, die Stimmung ist feierlich und fröhlich.

Bei einem Bat Mizva Mädchen hängt es davon ab, welcher jüdischen Strömung und welcher Synagogengemeinde sie angehört. In bestimmten Teilen der frommen jüdischen Orthodoxie ist es nicht üblich, dass man die Bat Mizva wie bei einem Jungen feiert. Die Feier fällt eher bescheiden aus. In vielen anderen und moderneren Gruppierungen des Judentums besteht man durchaus darauf, dass eine Bat Mizva Feier ebenso in der Synagoge stattzufinden hat. Das mündige Mädchen hält eine Rede und feiert ihr Erwachsenwerden mit der Gemeinde. In den liberalen jüdischen Gemeinden nimmt sie oftmals an der Lesung teil.

Eine wichtige Station im Leben eines Erwachsenen ist die Hochzeit. Heiraten gehört im Judentum zu den wichtigen Geboten des Lebens. Voraussetzung für eine jüdische Hochzeit ist immer, dass beide Partner jüdischen Glaubens sind. Den Ablauf einer jüdischen Hochzeit muss man sich ungefähr so vorstellen: Vor der Hochzeit geht die Braut in ein rituelles jüdisches Tauchbad, das man Mikve nennt. Sie taucht mit dem ganzen Körper in das Wasser ein und erlangt dadurch eine Art spirituelle Reinheit. Eine jüdische Hochzeit kann in einer Synagoge stattfinden, muss aber nicht. Viele heiraten draußen im Freien, symbolisch unter dem Sternenhimmel in Anlehnung an das göttliche Versprechen über die zahlreichen Nachkommen, das der Erzvater Abraham erhielt. Die Trauung leitet in der Regel ein Rabbiner. Während der Trauung stehen Braut und Bräutigam unter einem Hochzeitsbaldachin, den man im Judentum die „Chupa“ nennt. Vor der eigentlichen Trauung bedeckt der Bräutigam das Gesicht der Braut mit einem Schleier. Er stellt sich als erster unter die Chupa und empfängt die Braut, welche  bei ihrer Ankunft siebenmal um ihn herumgeht. Der Rabbiner spricht die Hochzeitssegen mit einem Weinkelch in der Hand, aus dem dann getrunken wird. Mit der Übergabe des Hochzeitsrings an die Braut ist die Eheschließung rechtlich vollzogen. Es wird der traditionelle jüdische Ehevertrag, die sog. Ketuba vorgetragen. In diesem Ehevertrag sind viele Rechte der ab jetzt verheirateten Frau im Sinne des jüdischen Religionsrechts festgehalten. Symbolisch für die Zerstörung des Jerusalemer Tempels, dessen Gedenken auch am Tag der größten Freude eines Hochzeitspaares nicht vergessen werden darf, zertritt der Bräutigam ein Glas. Damit endet der rituelle Teil der Eheschließung unter der Chupa. Jüdische Hochzeiten werden mit viel Freude und Enthusiasmus gefeiert. Die Hochzeitsgesellschaft tanzt um das frisch verheiratete Paar und hebt sie auf Stühle und Schultern.

Da auch eine Scheidung für viele Menschen eine wichtige Station des Lebens bedeuten kann, sei hier erwähnt, dass das Judentum auch diesen Akt religionsrechtlich definiert: Eine Scheidung wird vor einem Rabbinatsgericht mittels einer traditionellen Scheideurkunde, die im Judentum „Get“ genannt wird, durchgeführt. Hierbei ist es der Mann, der der Frau den Scheidebrief in Anwesenheit der Rabbiner zu überreichen hat. Ohne ein Get sind eine jüdisch verheiratete Frau und ein jüdisch verheirateter Mann religionsrechtlich immer noch miteinander verheiratet und können demzufolge nicht neu heiraten.

Die letzte Station eines Menschen auf Erde ist sein Tod. Im Judentum sind mit den Jahrhunderten und Jahrtausenden sehr viele Riten und Bräuche des Trauerns und des Umgangs mit Verstorbenen entstanden. Wichtig zu wissen: Aktive Sterbehilfe ist im Judentum verboten. Ein Verstorbener muss recht zügig beigesetzt werden. Mit der praktischen Beisetzung eines Verstorbenen beschäftigt sich in der Regel ein jüdischer Beerdigungsdienst, den man die „Chevra Kadischa“ nennt. Diese wäscht die Leiche unmittelbar vor der Beisetzung und legt den Verstorbenen in Totenkleider, die sog. „Tachrichim“. Am Tage der Beerdigung versammelt sich die Trauergemeinschaft auf dem jüdischen Friedhof. Trauernde, für die jüdische Trauergesetze gelten, sind: Vater, Mutter, Sohn, Tochter, Geschwister und Ehepartner*in eines Verstorbenen. Ein Rabbiner führt die Trauerzeremonie, dabei spricht er u.a. das berühmte Trauergebet „Ziduk Hadin“, bei dem die Annahme des bitteren göttlichen Urteils über Leben und Tod des Menschen akzeptiert wird. Ein wichtiger Brauch ist die Trauerrede auf den Verstorbenen, die vom Rabbiner und den Familienangehörigen gehalten wird. Der Verstorbene befindet sich während der gesamten Trauerzeremonie im verschlossenen Holzsarg. Auf dem Weg zum Grab werden Gebete gesprochen. Dabei wird das Gebet einige Male unterbrochen, und die Trauergemeinschaft bleibt während der Unterbrechung stehen. Eine jüdische Beisetzung findet einzig und allein in Form einer Erdbestattung statt. Einäscherung oder andere Formen der Beisetzung sind im Judentum streng untersagt. An der Grabstelle angekommen, wird der Sarg abgeseilt. Erst wenn der Sarg mit Erde zugeschüttet ist, beginnt für die Angehörigen die siebentägige Trauerzeit. Man sitzt „Schive“ im Hause der Trauernden, womit gemeint ist: Trauernde Verwandte verlassen für eine Woche ihre Wohnung nicht, sie sitzen auf niedrigen Bänken oder Stühlen und trauern um die verstorbene Person.

Im Judentum gilt die Hoffnung, dass in einer zukünftigen, gerechten und erlösten Welt, die der Messias gründen wird, die Toten wiederauferstehen werden.

– Rabbiner Aharon Ran Vernikovsky, Gemeinderabbiner der jüdischen Gemeinde Mainz, Mitglied der orthodoxen Rabbinerkonferenz